Das Mysterium Magnum

(Text von Jacob Böhme 1623, deutsche Überarbeitung 2022)

1. Kapitel - Der geoffenbarte Gott und die Dreiheit

Was der geoffenbarte (bzw. selbstoffenbarte) Gott sei, und von der Dreiheit.

1.1. Wenn wir die neue Wiedergeburt verstehen wollen, was sie ist und wie sie geschehe, dann müssen wir erstlich erkennen, was der Mensch ist, und wie er Gottes Bild ist, und wie Gott darin wohnt, auch was der geoffenbarte Gott sei, dessen der Mensch ein Bild ist.

1.2. Wenn ich betrachte, was Gott ist, dann sage ich: Er ist das Eine gegenüber der Kreatur als ein ewiges Nichts. Er hat weder Grund, Anfang noch Stätte, und besitzt nichts, als nur sich selbst. Er ist der Wille des Ungrundes (des „grundlosen Grundes“). Er ist in sich selbst nur Eines und bedarf keinen Raum noch Ort, denn er gebärt von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst in sich selbst. Er ist keinem Ding gleich oder ähnlich, und hat keinen besonderen Ort, wo er wohnt, denn die ewige Weisheit oder Vernunft ist seine Wohnung. Er ist der Wille der Weisheit, und die Weisheit ist seine Offenbarung.

1.3. In dieser ewigen Gebärung sind uns drei Dinge zu verstehen: 1.) Ein ewiger Wille, 2.) ein ewiges Gemüt (eine Vernunft bzw. universale Intelligenz) des Willens, und 3.) der Ausgang vom Willen und dem Gemüt, der ein (wirkender) Geist des Willens und Gemütes ist.

1.4. Der Wille ist Vater. Das Gemüt ist das Gefaßte des Willens, als des Willens Sitz oder Wohnung, oder das Zentrum zum Etwas, und ist des Willens Herz. Und der Ausgang vom Willen und Gemüt ist die Kraft und der Geist.

1.5. Dieser dreifache Geist ist ein einiges Wesen, obwohl er doch kein Wesen ist, sondern die ewige Vernunft: Ein Ursprung des Ichts (das „Nichts“ ohne Negation, also ein Etwas*), und ist doch die ewige Verborgenheit, gleichwie die Vernunft des Menschen nicht faßbar oder in Zeit und Stätte ist, sondern selbst seine Faßlichkeit und sein Sitz ist, und das Ausgehen des Geistes ist die ewige ursprüngliche Beschaulichkeit, als eine Lust des Geistes.

(*Hegel (1770-1831), der berühmte Philosoph, spricht zum „Ichts“: Ein Wortspiel von „Nichts“, denn es ist eben das Negative; aber zugleich Gegenteil von Nichts, und das Ich des Selbstbewußtseins liegt darin. Der Sohn, das Etwas, ist so Ich, Bewußtsein, Selbstbewußtsein; das abstrakte Neutrale ist Gott, das Sichsammeln zum Punkt des Fürsichseins ist Gott. Das Andere ist nun das Ebenbild Gottes... Der Separator ist das Betätigende, sich Unterscheidende; und Böhme nennt ihn - dies Ichts - nun auch den Luzifer, den erstgeborenen Sohn Gottes, - den kreatürlich erstgeborenen Engel. Aber dieser Luzifer ist abgefallen, - Christus an seine Stelle gekommen... Denn das Ichts - das Sichselbstwissen, Ichheit - ist das Sich-in-sich-Hineinbilden, das Sich-in-sich-Hineinimaginieren, das Fürsichsein, das Feuer, das alles in sich hineinzehrt. Dies ist das Negative im Separator, die Qual, oder es ist der Zorn Gottes; dieser Zorn Gottes ist die Hölle und der Teufel, der durch sich selbst sich in sich hineinimaginiert. Das ist sehr kühn und spekulativ; so sucht Böhme in Gott selbst die Quelle des göttlichen Zorns nachzuweisen. Den Willen des Ichts nennt er dann auch die Selbheit (bzw. Ichheit); es ist das Übergehen des Ichts in Nichts (bzw. umgekehrt?), so daß sich das Ich in sich hineinimaginiert. Er sagt: »Himmel und Hölle sind so fern voneinander wie Tag und Nacht, wie Ichts und Nichts.« - In der Tat ist hier Böhme in die ganze Tiefe des göttlichen Wesens hineingestiegen... Quelle: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)

1.6. Das Ausgegangene heißt die Lust der Gottheit oder die ewige Weisheit, welche der ewige Ursprung aller Kräfte, Farben und Tugenden ist, durch welche der dreifache Geist in dieser Lust begehrend wird, nämlich nach Kraft, Farben und Tugenden, und sein Begehren ist ein Einpressen (bzw. Verdichten), ein sich selber Fassen. Denn der Wille faßt die Weisheit ins Gemüt, und das in der Vernunft Gefaßte ist das ewige Wort aller Farben, Kräfte und Tugenden, welches der ewige Wille aus der Vernunft des Gemüts durch den Geist ausspricht.

1.7. Und dieses Sprechen ist das Bewegen oder Leben der Gottheit, ein Auge des ewigen Sehens, darin eine Kraft, Farbe und Tugend die andere im Unterschied erkennt. Und doch stehen alle in gleicher Eigenschaft ohne Gewicht, Ziel oder Maß, auch voneinander ungetrennt. Alle Kräfte, Farben und Tugenden liegen in Einer, und das ist eine unterschiedliche, aber ineinander wohlgestimmte, gebärende Harmonie. Oder wie ich es ausdrücken möchte, ein sprechendes Wort, in welchem Wort oder Sprechen alle Sprachen, Kräfte, Farben und Tugenden liegen und sich mit dem Hallen oder Sprechen auswickeln und in ein Gesicht oder Sehen hineinführen.

1.8. Das ist nun das Auge des Ungrundes, des ewigen Chaos, darin alles liegt, was Ewigkeit und Zeit ist, und heißt Rat, Kraft, Wunder und Tugend. Und dessen eigentlicher Name heißt „Gott“ oder „יְהֹוָה“ oder „Jehovah“, der jenseits aller Natur ist, jenseits von allen Anfängen des einigen Wesens, ein in sich selbst Wirken, sich selbst Gebären und Finden oder Empfinden, ohne irgendwelche Qual (bzw. Qualität oder Eigenschaft) von etwas oder durch etwas. Er hat weder Anfang noch Ende, ist ungemessen und kann mit keiner Zahl in seiner Weite und Größe ausgesprochen werden, denn er ist tiefer als sich ein Gedanke schwingen kann. Er ist nirgends weit von etwas oder nahe bei etwas. Er ist durch Alles und in Allem. Seine Geburt ist überall, und ohne ihn ist sonst nichts. Er ist Zeit und Ewigkeit, Grund und Ungrund. Und es begreift ihn doch nichts als die wahre Vernunft, die Gott selbst ist.


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