Das Mysterium Magnum

(Text von Jacob Böhme 1623, deutsche Überarbeitung 2022)

78. Kapitel - Das Begräbnis von Jakob und der Extrakt von Allem

Vom Begräbnis des heiligen Erzvaters Jakob im Land Kanaan, und was darunter zu verstehen ist. (1.Mose 50)

78.1. Das Begräbnis Jakobs, daß ihn Josef nach seinem Tod wieder nach Kanaan führen sollte und bei seinen Vätern begraben, und daß Josef mit großem Heer, allen Kindern von Israel und vielen Ägyptern dahin gezogen ist, stellt uns den gewaltigen Auszug Christi aus dieser Welt vor, wenn der adamische Mensch nach seinem Tod aus diesem Ägypten und Qualhaus wieder in sein erstes (ursprüngliches) Vaterland ins Paradies hineingeführt werden soll, dahin ihn Christus führen wird.

78.2. Daß aber auch viele Ägypter mit dahin zogen und Josef beiwohnten, deutet an, daß Christus, wenn er seine Braut in das Paradies heimführen wird, auch viele Fremdlinge dabeihaben wird, welche ihn zwar in dieser (weltlichen) Zeit nach seiner Person und Amt nicht erkannt haben, aber doch in seiner Liebe in ihm aufgewachsen sind, welche alle mit Christus ins Paradies gehen und ihm beiwohnen werden.

78.3. Ihr Trauern und Weinen deutet die ewige Freude an, die sie im Paradies empfangen werden, wie auch die Magie allezeit mit Trauern und Weinen Freude darstellt. Das entsprechende Grabmal und was darunter zu verstehen ist, wurde bereits vorn bei Abraham erklärt.

78.4. Und Moses spricht in diesem Kapitel weiter: »Die Brüder Josefs fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: „Josef könnte uns gram sein und alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.“ Darum ließen sie ihm sagen: „Dein Vater befahl vor seinem Tod und sprach: ‚So sollt ihr Josef sagen: Lieber, vergib deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben.‘ Lieber, so vergib uns nun auch die Missetat, den Dienern des Gottes deines Vaters!“ Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. Und seine Brüder gingen selber hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte.“ Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht, denn ich bin unter Gott. Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, so daß er tat, wie jetzt am Tage ist, nämlich ein großes Volk zu erhalten. So fürchtet euch nicht! Ich will euch und eure Kinder versorgen.“ Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.«

78.5. Diese Darstellung ist ein mächtiger Trost für die Brüder Josefs. Weil aber Josef im Bild Christi steht und seine Brüder in der Bildung der armen bekehrten Sünder, so müssen wir auch diese Darstellung so deuten. Das heißt, wenn der arme sündige Mensch, der große Sünden begangen hat, sich zur Buße gewendet und Gnade erlangt hat, und etwa wieder einen Fehltritt tut, dann steht er immerzu in Furcht und Zittern vor Gottes Gnade und denkt, Gott werde ihm wieder die erste begangene Sünde zurechnen und an diesem Fehltritt Ursache nehmen. Und er steht deswegen in großen Ängsten und beginnt wieder, die erste begangene Sünde zu beichten. So fällt er aufs neue dem Herrn zu Füßen, geht wieder in die ernste Buße und beweint seine erste Missetat, wie David, als er sagte: „Herr, rechne mir nicht die Sünde meiner Jugend zu.“

78.6. Aber mit solcher neuen Buße und ernsten Klage, wenn sich der arme Mensch wieder so ganz ernsthaft und demütig vor Gott erzeigt, wird der himmlische Josef in solch großes Erbarmen geführt, wie hier Josef, so daß er die arme Seele im Gewissen tröstet, sie solle sich doch nicht fürchten, denn es soll ihr die begangene Sünde nicht nur nicht zugerechnet werden, sondern es soll ihr noch zum allerbesten gereichen, wie Josef sagte: „Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es dadurch gut zu machen.“ So vergibt Gott in Christus dem demütig bekehrten Menschen nicht nur die begangene Sünde, sondern er versorgt auch dazu noch ihn und seine Kinder mit zeitlichem Segen und Nahrung, und er wendet alles zum Besten, wie Josef seinen Brüdern tat.

78.7. Schließlich begehrte auch Josef durch einen Eid, daß, wenn er stürbe, sie seine Gebeine aus Ägypten mit zu seinen Vätern führen sollten, welches uns den Eid Gottes im Paradies andeutet, daß Christus, Gott und Mensch, wieder zu seinen Brüdern kommen wollte und ewig bei ihnen bleiben und ihr Hohepriester und König sein würde, und sie mit seiner Liebekraft pflegen und bei und in ihnen wohnen wird, wie Josef bei seinen Brüdern, und sie als seine Reben und Glieder ewig mit seiner Kraft und seinem Saft versorgen werde. Amen.

78.8. Dies war also eine summarische Erklärung über das erste Buch von Moses aus rechtem wahrem Grund und göttlicher Gabe, welche wir in mitwirkender brüderlicher Liebe und Pflicht unseren lieben Mitbrüdern, die dieses lesen und verstehen werden, ganz treulich mitgeteilt haben.

78.9. Und wir ermahnen den Leser, wenn ihm etwa an etlichen Stellen unser tiefer Sinn dunkel sein würde, daß er es nicht nach Art der bösartigen Welt verachte, sondern fleißig lese und zu Gott bete, der ihm wohl die Tür seines Herzens eröffnen wird, so daß er es begreifen und sich zur Seligkeit seiner Seele nutzbar machen kann, welches wir dem Leser und Hörer in der Liebe Christi aus den Gaben dieses Talents vom Grund der Seele wünschen. Und wir empfehlen ihn in die wirkende sanfte Liebe Jesu Christi.

Datum: 11. September, Anno 1623 vollendet.

Lobt den Herrn in Zion und preist ihn alle Völker! Denn seine Macht und Kraft geht durch und über Himmel und Erde. Halleluja!

Anhang: Kurzer Extrakt der hochsinnlichen Betrachtung des Mysterium Magnums

Wie die sichtbare Welt ein Ausfluß und Gegenwurf göttlicher Wissenschaft und Willens sei, wie alles kreatürliche Leben seinen Ursprung genommen habe, und wie das göttliche Aus- und Eingehen sei.

1. Alles sinnliche und empfindliche Leben und Wesen ist aus dem Mysterium Magnum (dem großen ganzheitlichen Geheimnis) gekommen, und zwar durch Ausfluß und Gegenwurf göttlicher Wissenschaft. Darin ist uns zweierlei zu verstehen, nämlich der freie Wille des Ungrundes und das wesentliche Eine im Willen, und wie diese beiden ein Gegenwurf (bzw. Gegensatz) des Ungrundes als ein Grund göttlicher Offenbarung sind, und wie sie zwei und doch nur Eines sind, daraus die Zeit und die sichtbare Welt samt allen Kreaturen geflossen und in ein Geschöpf gegangen sind.

2. Das einige Eine ist die Ursache des Willens, das den Willen verursacht, so daß er etwas will, obwohl er doch nichts hat, was er wollen kann, als nur sich selber zu einem Grund und einer Stätte seiner Ichheit. Denn er hat nichts, daß er fassen kann, als nur das Eine, und darin faßt er sich in eine Ichheit, damit der Wille etwas habe, darin und damit er wirkt, welches Wirken kein sichtbares Wesen wäre, wenn es nicht durch den Willen ausginge.

3. So ist nun der Ausgang ein Geist des unsichtbaren Willens und Wesens und eine Offenbarung des Ungrundes aus dem Grund der Einheit. Durch welchen Ausgang sich der Wille des Ungrundes dem Ungrund entgegenwirft, als ein Mysterium der Allwissenschaft. Mit diesem Ausgang wird die Ursache und der Ursprung aller Unterschiedlichkeit der Einheit des einigen unergründlichen Willens durch seinen eigenen Grund seiner eingefaßten Ichheit verstanden, wie auch der ewige Anfang der Bewegung und die Ursache des Lebens, welche Bewegung eine immerwährende Lust des Willens ist. Denn so schaut der Wille die Eigenheit durch die Bewegung und Ursache des Lebens, wie die Einheit durch die Bewegung des Willens in unendlicher Vielfalt steht, auf Art und Weise, wie auch das Gemüt eine Einheit und ein Quellbrunnen der Sinne ist, so daß eine solche Tiefe der Vielfalt aus dem einigen Gemüt entspringt, welche unzählbar ist.

4. Mit solcher dreifachen Einheit betrachten wir das Wesen Gottes: Nämlich mit der Einheit den einigen Gott, mit dem Willen den Vater und mit der Einfassung des Willens zur Stätte der Ichheit als das ewige Etwas, das da wirkt oder mit dem der Wille wirkt, den Sohn oder die Kraft des Willens. Und mit dem Ausgang betrachten wir den Geist des Willens und der Kraft, und mit dem Gegenwurf versteht man die Weisheit des Verständnisses, daraus alle Wunder und Wesen geflossen sind und ewig fließen.

5. Aus der Bewegung dieses unsichtbaren wirklichen Wesens durch den Ausfluß der ewigen Wissenschaft ist das Verständnis ausgeflossen, darin sich dann die Lust geschaut und in eine Begierde zur Bildlichkeit hineingeführt hat, in welcher Begierde der natürliche und kreatürliche Grund allen Lebens und aller Wesen entstanden ist, weil die Begierde den Ausfluß der Wissenschaft in Eigenschaften gefaßt und eingeschlossen hat. Daher sind zweierlei Willen entstanden, einer aus göttlicher (ganzheitlicher) Erkenntnis (Scienz) oder Wissenschaft, der andere aus den Eigenschaften der Natur, weil sich die Eigenschaften in eigenen Willen hineingeführt haben und sich mit der Eigenheit und dem eigenen Willen verdichtet und rauh, scharf, stachlig und hart gemacht haben, so daß aus solchen Eigenschaften durch den Widerwillen und die Feindschaft der Wissenschaft wiederum solche Eigenschaften entstanden sind. Wie an den Eigenschaften der Teufel sowie an der rauhen Erde, den Steinen und Kreaturen zu sehen ist, wie sich die Eigenschaften von der Einheit abgewandt haben und in eine Verdichtung (Impression) gegangen sind, deswegen sie auch in dieser Zeit den Fluch als das Fliehen des göttlichen Willens erdulden (bzw. erleiden) und in solcher Verdichtung stehen müssen, bis zum Tag der Wiederbringung.

6. Weil uns nun vor allem das (gedankliche) Gemüt des Menschen zu betrachten ist, welches ein Bild oder auch ein Gegenwurf göttlicher Wissenschaft ist, als ein Gegensatz von göttlichem und natürlichem Verständnis (bzw. ganzheitlicher Vernunft und zergliederndem Verstand), darin der Grund aller Wesen in dem Einen liegt und sich mit dem ausgehenden Willen des Gemüts unterschiedlich macht und offenbart, so daß wir klar erkennen, daß das Gemüt ein Quellbrunnen zum Guten und Bösen ist, und die Heilige Schrift uns auch solches andeutet, daß ihm der Fall und das Verderben aus der Begierde zur Eigenheit der Eigenschaften entstanden ist, so ist es uns allerhöchst vonnöten, daß wir verstehen lernen, wie wir aus der angenommenen Eigenheit, darin wir Marter, Not und Qual haben, wieder in die Einheit als in den Grund und Ursprung des Gemüts kommen können, darin das Gemüt in seinem ewigen Grund ruhen kann.

7. Denn kein Ding kann in sich selber ruhen, es gehe denn wieder in das ein, daraus es gekommen ist. Das Gemüt hat sich von der Einheit in eine Begierde zur Empfindlichkeit abgewandt, um die Unterschiedlichkeit der Eigenschaften zu probieren. Dadurch ist in ihm die Unterschiedlichkeit und der Widerwillen entstanden, welche nun das Gemüt beherrschen. Und davon kann es nicht entledigt werden, es sei denn, es verläßt sich selber in der Begierde der Eigenschaften und schwingt sich wieder in die allerreinste Stille und begehrt, in seinem Wollen zu schweigen, so daß der Wille sich über alle Sinnlichkeit und Bildlichkeit in den ewigen Willen des Ungrundes vertieft, aus dem er aus dem Mysterium Magnum anfänglich entstanden ist, so daß er in sich nichts mehr will, außer was Gott durch ihn will. Dann ist er im tiefsten Grund der Einheit. Und geschieht es dann, daß er eine kleine Weile ohne Bewegung eigener Begierde darin stehen kann, dann spricht ihm der Wille des Ungrundes aus göttlicher Bewegung ein und faßt seinen gelassenen Willen als sein Eigentum in sich ein und führt dahinein das Sein der ewigen Einfaßlichkeit (bzw. Selbsterkenntnis) der Stätte Gottes, als das wesentliche Eine.

8. Und wie nun der Wille der ewigen Gottheit durch den ewigen Geist ewig ausgeht und einen Gegenwurf des Ungrundes macht, so wird auch der gelassene Wille des Gemüts mit göttlicher Einfaßlichkeit durch Gottes Willen immerfort mit ausgeführt und erleuchtet. Und so herrscht das menschliche Gemüt in Gottes Willen, in göttlicher Erkenntnis und Wissenschaft über und durch alle Dinge, davon Moses sagte, er sollte herrschen über alle Kreaturen der Welt. Gleichwie Gottes Geist durch alles geht und alles probiert, so kann auch das erleuchtete Gemüt über und durch alle Eigenschaften des natürlichen Lebens herrschen und die Eigenschaften bewältigen und dem Verstand die höchste Sinnlichkeit aus göttlicher Wissenschaft einführen, wie auch St. Paulus sagt: »Der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefe der Gottheit. (1.Kor. 2.10)« Und mit solcher Einführung des göttlichen Willens wird der Mensch wieder mit Gott vereinigt und im Gemüt neu geboren, und er beginnt an der Eigenheit der falschen Begierde abzusterben und mit neuer Kraft geboren zu werden.

9. So hängt ihm dann zwar noch die Eigenheit im Fleisch an, aber mit dem Gemüt wandelt er in Gott, und im alten Menschen wird ein neuer geistiger Mensch mit göttlichen Sinnen und Willen geboren, der die Lust des Fleisches täglich tötet und durch göttliche Kraft die Welt als das äußere Leben zum Himmel macht, und den Himmel als die innere geistige Welt zur sichtbaren Welt, so daß Gott Mensch und Mensch Gott wird, bis der Baum in seinen höchsten Stand kommt und seine Früchte aus dem Mysterium Magnum durch göttliche Erkenntnis geboren hat, denn dann fällt die äußere Schale weg und ein geistiger Baum des Lebens steht überall im Acker Gottes. Amen.


Zurück Inhaltsverzeichnis