Das Mysterium Magnum

(Text von Jacob Böhme 1623, deutsche Überarbeitung 2022)

69. Kapitel - Die Hungersnot und Josefs Brüder

Wie diese Hungersnot durch alle Länder ging und Jakob seine Söhne ins Ägyptenland nach Getreide schickte, und wie sie vor Josef kamen und er ihnen begegnete, und was darunter zu verstehen sei. (1.Mose 42)

69.1. Dieses 42. Kapitel der Genesis ist nun mit Josef und seinen Brüdern eine Darstellung, wie Gott einem solchen bekehrten Christen, der mit Christus in seinen Prozeß treten mußte und sich nun überwunden hat, schließlich auch seine Feinde beschenkt, die sich im Prozeß Christi mit ihrem Verfolgen und falschen Verraten eingebracht haben, und wie ihnen ihre Sünde auch unter Augen gestellt werde, auch wie sie in Angst und Not geführt werden und schließlich aus lauter Gnade von Leid and Strafe erlöst werden, und wie ihnen Gott so gnädig wird, wenn sie sich bekehren, und nicht allein die Strafe erläßt, sondern sie auch mit seinem Segen begabt, wie hier Josef seine Brüder.

69.2. Aber daneben wird in dieser Geschichte auch dargestellt, wie sich Gott so ernsthaft gegenüber der Seele zeigt, wie hier Josef gegenüber seinen Brüdern, und wie es doch Gott nicht so ernst ist, daß er den bußfertigen Sünder nur nach der Schärfe strafen will, sondern er stellt sich hart gegen die Seele in ihrem Gewissen, damit die Sünden aufwachen und erkannt werden, und daß die Buße desto größer werde, so daß der Mensch in solchem Schrecken vor der Sünde demütig wird und ganz von Sünde abgeht und ihr gram wird, weil er erkennt, daß die Sünde ein so schreckliches Gericht in sich hat. Die Historie lautet so:

69.3. »Als aber Jakob sah, daß Getreide in Ägypten zu haben war, sprach er zu seinen Söhnen: „Was seht ihr euch lange um? Siehe, ich höre, es sei in Ägypten Getreide zu haben. Zieht hinab und kauft uns Getreide, damit wir leben und nicht sterben!“ Da zogen die zehn Brüder Josefs hinab, um in Ägypten Getreide zu kaufen. Aber Benjamin, Josefs (jüngeren) Bruder, ließ Jakob nicht mit hinabziehen, denn er meinte, es könnte ihm ein Unfall begegnen.«

69.4. Dies hat nun erstlich folgende Bedeutung: Wenn sich der Mensch im göttlichen Zorn in solcher Hungersnot befindet, weil es ihm an Gerechtigkeit mangelt, wie Jakob mit seinen Kindern in der Hungersnot, dann spricht der Vater im Gewissen zur Seele: „Was harrst du lange und siehst dich um? Geh hinab in die Buße, wo die Gerechtigkeit im Tod Christi zu haben ist, wo Christus Gerechtigkeit für deine Sünde gibt, wenn du dich nur herzlich zu ihm wendest.“ So ergibt der Vater seinen Willen in die Buße und Umkehr des Sünders.

69.5. Aber Benjamin, Josefs (jüngeren) Bruder, das heißt, die Menschheit Christi, gibt er ihnen nicht gleich mit. Er gibt ihm zuerst seine sündhaften Brüder, das heißt, er gibt ihm zuerst sein Schrecken ins Gewissen und verbirgt den Trost seiner Gnade, als den wahrhaften Benjamin, Josefs Bruder, vor den Eigenschaften der Sünden, und schickt die Eigenschaften der Sünden, nämlich diese, darin die Sünden gewirkt wurden, nach der Gnade, um solches Getreide bei Josef, als bei Christus, zu kaufen.

69.6. Der Sünder muß selber ran und mit Ernst in das Leiden und den Tod Christi eingehen und vor der Gnade seiner Sünden im Kerker des göttlichen Zorns absterben und sich in Josefs als in Christi Erbarmen aus Gnade hineinwerfen. Also nicht nur draußen stehenbleiben und sagen „Bei Christus ist Gnade zu haben!“, und sich mit der Gnade kitzeln und trösten. Nein, das erquickt die arme Seele nicht. Du mußt hinab nach Ägypten ziehen, zu deinem beleidigten Bruder, den du mit deinen Sünden in dir in die Grube (des Todes) geworfen hast, und mußt ihm in großer Demut unter die Augen treten, auch wenn du ihn nicht gleich erkennen wirst, bis er sich dir in seiner Barmherzigkeit zu erkennen gibt. Dort mußt du in Christi Macht und Herrlichkeit, die er in seiner Auferstehung erlangt hat, das Getreide (als Samen der Gnade) für die arme Seele kaufen, damit sie lebe und nicht sterbe, wie Jakob zu seinen Kindern sagte.

69.7. Und Moses spricht weiter: »So kamen die Kinder Israels, um Getreide zu kaufen, samt anderen, die mit ihnen zogen, denn es war auch im Land Kanaan Hungersnot. Aber Josef war der Regent im Land und verkaufte Getreide allem Volk im Land. Als nun seine Brüder zu ihm kamen, da fielen sie vor ihm nieder zur Erde auf ihr Antlitz, und er sah sie an und erkannte sie, aber stellte sich fremd vor ihnen und redete hart und sprach zu ihnen: „Woher kommt ihr?“ Sie sprachen: „Aus dem Land Kanaan, um Speise zu kaufen.“ Aber obwohl er sie erkannte, so erkannten sie ihn doch nicht.«

69.8. Dies ist nun der erste Zustand, wenn sich die arme Seele zu Christus wendet, um von ihm Speise zu holen. Dann sieht er der Seele in ihren Willen ganz in ihre Essenz, ob der freie Wille sich zu ihm gerichtet habe, und wenn er nur hingewendet steht, dann erkennt er ihn. Aber er erschreckt zuerst das Gewissen und stellt sich fremd und hart gegen die Seele, wie gegen das kanaanäische Weiblein, und verbirgt der Seele seine Gnade, bis sie ihre Buße ausschüttet und vor Christus ihr Antlitz verneigt und alle ihre Schuld bekennt und sich ganz zur Grube des Gerichts beugt und sich in Gottes Zorn und Strafe ergibt, als dem Sterben ihrer Ichheit.

69.9. Dann sieht Christus in sie hinein und faßt sie zwar mit dem ernsten Band des göttlichen Zorns, aber darin verbirgt sich nur seine Liebe und Gnade. Sie ist es, die dem armen Sünder seine Sünde rügt und stört, so daß er erschrickt und sich vor Gott fürchtet. Und wenn die Seele steht und zu Gott ruft, dann fragt Christus im Gewissen: „Wer bist du? Sieh dich nur an, ob du auch meiner wert bist!“ Wie hier Josef tat, als er fragte „Wer seid ihr?“ und sich hart und fremd stellte.

69.10. »Und Josef dachte an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte, und sprach zu ihnen: „Ihr seid Kundschafter und seid gekommen, um zu sehen, wo das Land offen ist!“« Das heißt, Christus gedenkt an seine Barmherzigkeit und an sein bitteres Leiden und Sterben und spricht zur Seele: „Du bist ein Kundschafter und kommst zu mir und willst nur sehen, wo die Pforte meiner Gnade offen ist. Aber das soll dir nicht helfen, du mußt anders ran. Du mußt zuerst in die Pforte meines Leidens und Todes eingehen, sonst bist du nur ein Kundschafter und willst sehen, wo die Pforte meiner Gnade offensteht, damit du diese als einen Deckmantel über dich decken kannst. Es muß dir Ernst sein, sonst willst du nur mein Verräter sein und meine Gnade in deinem Mund führen.“

69.11. »Und Josefs Brüder antworteten ihm und sprachen: „Nein, mein Herr! Deine Knechte sind gekommen, um Speise zu kaufen. Wir alle sind eines Mannes Söhne, wir sind redlich, und deine Knechte sind nie Kundschafter gewesen.“« Das bedeutet in dieser Darstellung so viel wie: Bevor sich die Eigenschaften der Seele in ihrer Eitelkeit wahrhaft erkennen, denkt die Seele, es geschehe ihr Unrecht, wenn ihr der Zorn Gottes unter die Augen als in ihre Essenz tritt. Denn sie meint, wenn sie sich des Verdienstes Jesu Christi tröstet und an Christus glaubt, daß er Gottes Sohn sei und für die Sünde bezahlt habe, dann könne sie nicht als Kundschafter und ungerechten Heuchler gescholten werden. Sie sei ja durch Christi Rechtfertigung gerecht, weil sie es glaubt, daß es ihr zugute geschehen sei.

69.12. Aber wie Josef zu seinen Brüdern sprach »Nein, sondern ihr seid gekommen, um zu sehen, wo das Land offen ist.«, so beschuldigt auch der Geist Christi die Essenzen der Seele. Denn er prüft sie, falls diese (Essenzen) noch nicht zerschellt sind, sondern noch eigene Begierde in sich haben, und sie nur gleich zur Gnade will, nämlich zur offenen Pforte greifen. Welches für die Seele nicht gilt, denn sie muß zuerst in Christi Leiden und Sterben eintreten und diese zuerst durch ernste Buße und Umkehrung ihres Willens anziehen. Dann kann sie durch die offene Pforte durch Christi Wunden und Tod in seine Auferstehung eingehen.

69.13. »Weiter sagten Josefs Brüder: „Wir, deine Knechte, sind zwölf Brüder, die Söhne eines Mannes im Land von Kanaan, und der jüngste ist noch bei unserem Vater, aber einer ist nicht mehr da.“ Josef sprach zu ihnen: „Es ist, wie ich euch gesagt habe, Kundschafter seid ihr. Daran will ich euch prüfen, beim Leben des Pharaos, ihr sollt hier nicht wegkommen, es komme denn euer jüngster Bruder her. Sendet einen von euch hin, der euren Bruder hole! Sonst sollt ihr gefangen sein. Daran will ich eure Rede prüfen, ob ihr mit Wahrheit umgeht oder nicht. Denn wenn nicht, dann seid ihr, beim Leben des Pharaos, Kundschafter.“ Und er ließ sie zusammen drei Tage lang in Gewahrsam nehmen.« Die teure innere Bedeutung versteht so:

69.14. Wenn sich die Seele auf diese Weise Christus nähert und sogleich seine Auferstehung anziehen will, dann spricht der Geist Christi in die seelische Essenz: „Das ist es, was ich euch gesagt habe, deine Essenzen sind Kundschafter, beim Leben Gottes. Doch daran will ich sie prüfen, ob sie auf redlicher Bahn zu mir kommen, daß sie mir ihren jüngsten Bruder mitbringen, nämlich den wahrhaften Bruder Josefs, das heißt, die einverleibte Linie des Gnadenbundes in ihrer in Adam verblichenen himmlischen Wesenheit, als den einverleibten Gnadenbund, der im Paradies geschlossen wurde, so daß sich die seelische Essenz mit ihrem innerlichsten Grund zu mir und in mich hineinwende. Sonst kommen sie nur als Heuchler und Kundschafter der Gnadenpforte.“

69.15. Das heißt recht „den jüngsten Bruder holen“. Denn diese einverleibte Gnade, wie in der Verheißung im Paradies geschehen, ist der Seele jüngster Bruder, den sie mit der Sünde verbirgt und zudeckt und im Anfang ihrer Buße daheim läßt, beim Leben Gottes.

69.16. Darum sagt der Text von Moses ganz heimlich, er wolle sie beim Leben des Pharaos darin prüfen, das heißt in der Bildung beim Leben Gottes, bei dem dieser jüngste Sohn zurückblieb. Den muß ein bußfertiger Mensch mit zur Gnadenpforte bringen, sonst muß er drei Tage verschlossen und gefangen liegen, bis er ihn bringt, wie Josefs Brüder. Das heißt, sonst müssen die drei Prinzipien im Menschen so lange im Zorn Gottes gefangenliegen und können keine göttliche Speise kaufen, sie haben denn diesen ihren jüngsten Bruder, das heißt, die Pforte mit, darin Christus im Menschen in diesem Bild vom Wesen der himmlischen Welt, das in Adam verblich, vom Tod aufersteht, und darin er sein Wohnhaus haben kann.

69.17. So wird ein Mensch beim Leben Gottes geprüft, wenn er sich zu Gott wendet, ob er sich wirklich ganz und gar zu ihm wende und diesen einverleibten Gnadengrund mitbringe, darin sich Christus offenbaren will und soll: Wenn nicht, dann spricht Josef, das heißt Christus, zu der Seele Essenzen: „Ihr seid an Gottes Leben nur Kundschafter und erforscht nur die Rechtfertigung des Menschen vom Leiden und Verdienst Christi, das heißt, ihr lernt nur die Historie, nehmt den teuren Bund Gottes in euren Mund und heuchelt euch selber mit Christi Genugtuung, aber bleibt nichts als nur Kundschafter der Gnade. Aber das soll euch nicht gelten und nichts helfen, wenn ihr das Reich Christi nur auskundschaftet. Mein Zorn und meine Gerechtigkeit im Eifer sollen euch doch mit allen drei Prinzipien gefangenhalten, solange ihr den innersten Grund eures Wesens nicht mitbringt, das heißt: Alle zwölf Söhne Jakobs vor Josef als vor Jesus stellen und ihm mit Leib und Seele von innen und außen aus all seinen Kräften zu Füßen fallen und sich in seine Gnade ergeben.“

69.18. Denn es heißt nicht, die Gnade nehmen zu können, sondern sich in die Gnade zu versenken, so daß sich ihm die Gnade ergebe. Denn des Menschen Nehmenkönnen ist verloren, weil der eigene Wille von Gott abgetrennt ist. Deshalb muß er sich gänzlich in Gott versenken und vom Willen ablassen, so daß ihn Gott wieder in seine Gnade nimmt.

69.19. Oh Babel (der himmelstrebenden Gedanken-Konstrukte), wie trifft dich das: Du bist beim Leben Gottes mit deiner Heuchelei nur ein Kundschafter der Gnade Gottes. Du suchst nur die Gnadenpforte, wie du mit eigenem Willen ohne deinen innerlichen Benjamin in das Reich Christi eingehen könntest. Ja, du willst ein von außen angenommenes Gnadenkind sein, dem seine Sünden durch Christi Verdienst vergeben sind, und bleibst doch nur Babel und Fabel, und willst kein Christ in Christus sein. Du willst in den Himmel fahren, aber das gilt dir nicht, denn Josef, das heißt Christus, hält dich im Zorn Gottes in Leib und Seele gefangen. Es sei denn, du gibst ihm Benjamin, als deinen innerlichsten Grund, dann fährt der Himmel in dich und Christus steht in dir aus seinem Grab, das du selber bist, vom Tod auf. Dann hat deine Auskundschafterei ein Ende.

69.20. Oh ihr hohen Schulen und alle, die ihr Gottes Diener sein und den Weg Gottes lehren wollt und darum zankt, was seid ihr? Seht euch doch in dieser Darstellung an! Ihr seid nichts anderes als solche Kundschafter Gottes. Ihr forscht immer und liegt doch nur im Gefängnis. Gott will es so nicht mehr haben, denn er selbst prüft die Gedanken der Menschen und ist selbst allen Dingen gegenwärtig. Sein ist die Vernunft, und sein ist das Wissen vom Reich Gottes, denn ohne ihn wißt ihr nichts.

69.21. Euer Kundschaften und Wissen hilft euch nicht ins Reich Gottes. Ihr könnt dort nicht hineinkommen, es komme denn in eurem Leben hervor. Das heißt, es werde in eurem Leben offenbar, daß ihr Gottes Kinder in Christus in seinem Leiden, Tod und der Auferstehung in ihm selbst seid, nicht durch historisch angenommenen Glaubens-Schein, sondern essentieller, wie die Rebe am Weinstock. Ihr müßt ein Zweig am Baum sein, ihr müßt Christi Leben, Fleisch und Blut wirklich und wesentlich im innerlichen Grund in euch haben und Christus sein, sonst seid ihr alle miteinander nur Kundschafter, Forscher und historische Christen, und nicht besser als Juden, Türken und Heiden.

69.22. Oh ihr einfältigen Menschen, laßt euch doch weisen! Geht nur vom Turm der verwirrten Sprache (der gedanklichen Begriffe) weg, dann könnt ihr bald zurechtkommen. Sucht Christus zur Rechten Gottes in euch, denn dort sitzt er. Schließt nur euren Willen auf, das heißt, ergebt Ihm nur denselben und Er wird ihn wohl aufschließen. Eure Buße muß Ernst sein, oder ihr seid alle miteinander nur solche Kundschafter.

69.23. Gafft nicht mehr, es ist Zeit! Sie ist wahrhaftig geboren, eure Erlösung naht sich, und der Bräutigam ruft seine Braut. Ja, ins Gefängnis Josefs müßt ihr in dieser Hungersnot, wenn ihr nicht wollt, Amen.

69.24. Und Moses spricht weiter: »Am dritten Tag aber sprach er zu ihnen: „Wollt ihr leben, dann tut dies, denn ich fürchte Gott. Seid ihr redlich, dann laßt einen eurer Brüder in eurem Gefängnis gefangenliegen. Ihr aber zieht hin und bringt heim, was ihr gegen den Hunger gekauft habt, und bringt euren jüngsten Bruder zu mir, dann will ich euren Worten glauben, so daß ihr nicht sterben müßt.“ Und sie taten es so.« Diese Darstellung versteht so:

69.25. Wenn sich die Seele Gott naht und Buße tun will, aber ihr innerlicher Grund noch ganz in der Eitelkeit verschlossen ist, so daß das Gemüt noch an der Eigenheit hängt, sie aber nicht von der Buße ablassen will und im Gebet bleibt, auch wenn sie die irdische Begierde noch nicht loswerden kann, dann läßt ja Gott der Vater die Essenzen der Seele aus dem Gefängnis seines Zorns, so daß dem Gemüt wieder wohl wird, wie einem, der aus dem Gefängnis freigelassen wurde. Dann spricht das Gemüt auch: „Mir ist gar wohl geworden in meinem Gebet dieser Buße.“

69.26. Denn Gottes Zorn hat die Natur aus seinem Gefängnis entlassen, damit sie mit großer Arbeit zu Gott dringen soll, denn in ihrem Gefängnis kann sie es nicht. Dort ist ihr bange und sie sieht nur ihre begangenen Sünden, die sie immerfort zurücktreiben, so daß sie sich vor Gott fürchtet und schämt. Aber wenn sie der Zorn losläßt, dann bekommt sie Kraft zum Gebet und zur Bußwirkung.

69.27. Aber der Zorn Gottes hält sie noch immer an einem Band, gleichwie Josef seinen Bruder gefangenhielt, bis sie ihm auch den letzten Bruder brachten. So muß die arme Seele an einem Band im Gefängnis des Todes stehenbleiben, bis sie den letzten Bruder, als den innerlichsten Grund, ausschüttet und vor Gott tritt und sagt: „Oh Herr, ich will um Christi und meiner Seligkeit willen alles verlassen und meinen Willen dir ganz ergeben. Wirf mich in Tod oder Leben, in Schande oder Spott, in Armut oder Elend, wie du willst, so will ich bei dir bleiben. Ich will nicht mehr vor dir heucheln und dir meinen Willen nur halb ergeben, wie ich es bisher getan habe.“

69.28. Wenn dann der Ernst so in die Praxis geht, und Gott erkennt, daß es Ernst ist, dann wird auch der letzte Bruder losgelassen, das heißt, dann wird auch das letzte Band des göttlichen Zorns gelöst. Aber bis es dazu kommt, muß die Seele an einem Band gefangenliegen.

69.29. Doch nichts desto weniger spricht Gott zu den anderen losgelassenen Lebensgestaltungen: „Nun zieht hin mit dem, was ihr nun in dieser Buße bei mir gekauft oder bekommen habt, und bringt es heim, das heißt, besudelt es nicht wieder, lebt davon und genießt diese jetzt geschenkte Gnade, und führt es zu Gottes Ehren, damit es mit der Wirkung vor Gott komme.“

69.30. Moses spricht weiter: »Sie aber sprachen untereinander: „Das haben wir an unserem Bruder verschuldet, denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, doch wir wollten ihn nicht erhören. Darum kommt nun diese Trübsal über uns.“ Ruben antwortete ihnen und sprach: „Sagte ich es euch nicht, als ich sprach: ‚Versündigt euch nicht an dem Knaben!‘ Doch ihr wolltet nicht hören. Nun wird sein Blut gefordert.“ Sie wußten aber nicht, daß es Josef verstand, denn er redete mit ihnen durch einen Dolmetscher. Und er wandte sich von ihnen und weinte. Als er sich nun wieder zu ihnen wandte und mit ihnen redete, nahm er aus ihrer Mitte Simeon und ließ ihn vor ihren Augen binden.«

69.31. Diese Darstellung ist nun der Ernst der Buße, wenn der Mensch in seiner Buße vor Gottes Augen steht. Denn wenn er zu Gott fleht, weil ihm sein Gewissen und die Sünde aufweckt, wie hier den Brüdern Josefs geschah, dann spricht er in sich: „Das habe ich mit meinen Sünden verdient, weil ich Christus in mir und außer mir in meinen Mitmenschen kreuzigen half und ihn verspottet habe und sein Flehen in meinen Nebenchristen nicht beachtete, sondern sie verhöhnt und zur Verdammnis gerichtet habe. So trifft es mich jetzt, wenn ich mich zu Gott wenden und Buße tun will. Jetzt halten mich seine Seufzer und Tränen auf, die ich ihm zu meiner Wollust, Spötterei und Üppigkeit herausgetrieben habe. Jetzt stehe ich hier, und der Himmel wird mir im Gewissen eifern.“

69.32. So spricht dann Gott im Gewissen: „Du hast es doch wohl gewußt, denn dazu habe ich dir mein Wort sagen lassen. Du wußtest es wohl, daß du Unrecht tätest, aber dein bösartiger Mutwille mußte regieren.“ Jetzt willst du Gnade haben, doch der Teufel spricht: „Es ist umsonst, die Gnade ist weg, der Himmel ist zu und die Hölle offen, laß nur ab, du erlangst nichts!“

69.33. Aber die große Barmherzigkeit in der Gnade Christi im innerlichen Grund dringt mit seinem Jammer und großem Erbarmen hindurch, obwohl sie auch jetzt noch ihr Angesicht der Liebe verbirgt, so daß die Seele sie nicht erkennt, und macht die betrübte Seele voll Jammer, daß sie in sich vor Gott fleht und weint und sich aller Bosheit schuldig gibt. Und sie beginnt in solchem entzündeten Jammer, ihre Sünde bitterlich zu beklagen und zu bereuen, und ist auch so voll Schande vor Christi Augen, so daß sie ihr Angesicht vor Gott verbirgt und nicht weiß, was sie vor Jammer anfangen soll. Denn sie sieht in sich mit Augen, daß sie Gottes strenge Gerechtigkeit in ihrem Leben bindet und hält, wie die Brüder Josefs sehen mußten, daß ihr Bruder wegen ihrer Sünde vor ihren Augen gebunden wurde.

69.34. Denn obwohl Christus in der Essenz der Seele im innerlichen Grund der einverleibten Gnade rege ist und diese Essenz so zerschellt, daß die Seele ihre Sünde sieht und bereut, so stellt er sich aber noch fremd vor die Seele und will sie mit keinem Liebestrahl berühren, wie sich Josef fremd stellte, als verstünde er ihre Sprache nicht, und durch einen Dolmetscher zu ihnen redete.

69.35. Dieser Dolmetscher ist es eben, der die Seele in solche Reue bringt, sonst könnte sie es nicht. Denn sie hat in eigener Macht nichts mehr als nur dies, daß sie ihren unergründlichen übernatürlichen Willen zu Gott wenden kann, als in das, daraus er gekommen ist, und dort stillstehen, welches ihr aber sehr schwerfällt, und doch möglich ist. Es sei denn, daß sich ihr Wille ganz von der einverleibten Gnadenpforte abgebrochen und dem Gift des Teufels ergeben hat, so daß der Wille des Ungrundes der Seele in die Bildung einer falschen Distel ging und ganz giftig ist. Dann ist es zu schwer und sie gelangt zu keiner Reue, sondern ist leichtfertig und verstockt und begehrt sich niemals umzuwenden. Es reut sie auch keine Bosheit, sondern sie erfreut sich derselben, solange sie den Leib trägt, doch dann ist es um sie geschehen. Wo aber noch ein Fünklein göttlicher Begierde ist, da ist noch Rat (und Hilfe).

69.36. Und Moses spricht weiter: »Und Josef gab Befehl, daß man ihre Säcke mit Getreide fülle und ihnen ihr Geld wiedergebe, einem jeglichen in seinen Sack, dazu auch Zehrung auf den Weg. Und man tat ihnen so. Und sie luden ihr Getreide auf ihre Esel und zogen von dannen. Als aber einer seinen Sack auftat, um in der Herberge seinem Esel Futter zu geben, wurde er seines Geldes gewahr, das oben im Sack lag, und sprach zu seinen Brüdern: „Mein Geld ist mir wiedergegeben, siehe in meinem Sack ist es!“ Da stockte ihnen ihr Herz und sie sprachen erschrocken zueinander: „Warum hat Gott uns das getan?“«

69.37. Dies ist nun die liebreiche Darstellung, wie Gott dem bußfertigen Sünder, wenn er in seinem Willen alles übergibt und gedenkt, an Gott beständig zu bleiben, nichts nimmt. Er nimmt kein Geschenk, noch etwas anderes von ihm, er nimmt ihm auch nicht sein zeitliches Gut, wenn er es nur Gott übergibt und die Meinheit verläßt. Dann füllt ihm Gott seinen Sack und gibt ihm das Geld, das er den Armen und Elenden gibt, in seinem Segen alles wieder, und legt es ihm oben auf in seine Nahrung, damit der Mensch sieht, daß es ihm Gott in seinem wunderlichen Segen wieder beschert hat.

69.38. Darüber sich ein Mensch oft verwundert, wie es zugeht, daß ihm zeitliche Nahrung auf so wunderbare Weise zufällt, obwohl er es doch nicht so gesucht oder etwas davon gewußt hat, und sich sogleich darüber entsetzt, ob er es auch annehmen soll. Er denkt auch wohl, es geschehe ihm zur Versuchung, wie hier Josefs Brüder dachten, Josef versuchte sie so, daß er Ursache zu ihnen hätte (um sie zu bestrafen).

69.39. Auch ist hier das innerliche Geschenk Christi angedeutet, daß, wenn der arme Sünder sein Herz vor Gott zur Bezahlung der Gnade ausschüttet und Gott gibt, was er hat, dann füllt ihm Gott mit der Gnade Christi den Sack seines Herzens voll und gibt ihm noch eine gute Zehrung als Verstand und Weisheit auf den Weg seiner Pilgerstraße, auf welcher er durch dieses Jammertal wieder heim in sein Vaterland reisen soll.

69.40. Denn mit dieser Reise auf dieser Pilgerstraße, dazu dem adamischen Menschen sein Sack mit himmlischem Wesen gefüllt wird, wird dem Reich des göttlichen Zorns sowie der Irdischkeit das Ihrige geraubt (das sie am Menschen haben), wie in dieser Darstellung zu sehen ist.

69.41. Denn als Jakobs Söhne zu ihrem Vater heimkamen und ihm erzählten, wie es ihnen ergangen war, und ihre Säcke ausschütteten und das Geld wiederfanden, und sie auch Benjamin mit nach Ägypten haben wollten, da sprach Jakob: »Ihr beraubt mich meiner Kinder! Josef ist nicht mehr da, Simeon ist nicht mehr da, und Benjamin wollt ihr mir auch wegnehmen. Es geht alles über mich. (Wie kann ich das ertragen?)«

69.42. Hier steht ihr Vater Jakob in der Darstellung der Eigenheit äußerer Natur, wie sich die Natur beklagt, wenn ihr das Recht und was sie ans Licht geboren hat geraubt wird. Und es steht trefflich schön in der Darstellung, denn die äußere Natur spricht, wenn sie die göttlichen Gaben in sich sieht, durch die sie das Recht ihrer Eigenheit verliert: „Ich werde meiner Macht beraubt! Josef, als der innerliche Grund des Himmelreichs, den ich im Paradies hatte, ist schon nicht mehr da. Und nun will mir dieses Geschenk auch meine Gewalt nehmen, nämlich meine Kinder, das heißt, die Eigenschaften meiner Natur. Es geht alles über mich, und ich muß mich berauben lassen.“

69.43. »Ruben aber sprach zu seinem Vater: „Wenn ich dir Benjamin nicht wiederbringe, dann töte meine zwei Söhne! Gib ihn nur in meine Hand, ich will ihn dir wiederbringen.“« Das heißt, Gott tröstet die Natur und spricht: „Gib mir deine Gestaltung als deine Kinder in meine Hand! Ich will sie nur nach Ägypten zu Josef führen, das heißt zu Jesus, und will sie dir wiedergeben, und du sollst nichts verlieren. Wenn nicht, dann töte meine beiden Söhne an dir, das heißt, töte das erste und zweite Prinzip!“

69.44. Welches auch geschähe. Denn wenn die Natur ihrer Gestaltung beraubt würde, dann müßte in der Natur des Menschen das Reich Gottes in der Liebe und auch das Reich Gottes in der Feuersmacht aufhören. So ganz heimlich spielt hier der Geist Gottes in der Darstellung der Wiedergeburt, welche Erklärung dem Verstand fremd erscheinen wird. Aber wir wissen, was wir hier schreiben, den Unseren verständlich.

69.45. »Und Jakob sprach: „Mein Sohn Benjamin soll nicht mit euch hinabziehen! Denn sein Bruder ist schon tot, und er allein ist übriggeblieben. Wenn ihm ein Unfall auf dem Weg begegnete, den ihr reist, würdet ihr meine grauen Haare mit Herzeleid in die Grube (hinunter zu den Toten) bringen.« Das heißt: Die Natur ist blöde (bzw. träge), wenn sie in den Tod Christi eingehen soll, und fürchtet sich vor dem Sterben und will nirgends ran. Sie entschuldigt sich ihres gehabten himmlischen Josefs, als des Himmelsbildes. Und weil sie dieses nicht begreifen kann, spricht sie diesbezüglich: „Es ist schon tot! Und wenn nun diesen meinen Lebensgestaltungen auf diesem Weg auch noch Unheil widerführe, dann müßte ich mit Herzeleid vergehen, und mein Leben hätte ein Ende.“


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