P. Deussen: Einleitung zum christlichen Hintergrund (1897)

Dr. Paul Deussen, Professor der Philosophie an der Universität Kiel, Philosophie-Historiker und Indologe (1845-1919).

Hochansehnliche Versammlung!

Ein bekannter Ausspruch Goethes behauptet, daß das eigentliche Thema der Welt- und Menschengeschichte der Kampf des Unglaubens mit dem Glauben sei. Aber was ist Glaube, und was Unglaube? Haben die Menschen doch oft als Unglauben geschmäht und verfolgt, was nachher der Glaube vieler Zeitalter geworden ist! Wir möchten daher die Behauptung Goethes dahin verstehen oder berichtigen, daß das Hauptthema der Geschichte vielmehr in dem Kampf des Lebendigen mit dem Toten bestehe. Immer wieder begegnen wir in der Weltgeschichte demselben Schauspiel, wie eine große, neue Wahrheit auftritt, wie sie sich in Widerspruch zu geheiligten Überlieferungen setzt, wie wenige, aber die edelsten Geister des Zeitalters sie ergreifen, sich zu Märtyrern derselben machen, bis endlich nach hartem Kampf der Sieg errungen und die Wahrheit zum Gemeingut der Menschheit wird. Dann aber sehen wir, wie unter den Händen der Menge das vorher Lebendige ein Totes wird: Das tief Gedachte und Empfundene wird zur gedankenlosen Formel, zur leeren Phrase, das ursprünglich nur um seiner selbst willen Geschätzte wird zum Werkzeug persönlicher Zwecke herabgewürdigt, und das vordem Verfolgte wird nun oft selbst zum Verfolger jeder neuen, lebendigen Regung, bis es endlich, von einer solchen besiegt und verdrängt, nur noch ein schattenhaftes Nachleben in der Geschichte führt.

Beispiele für diesen Vorgang sind zahlreich, auch wenn wir von der indischen Geisteswelt absehen und uns nur auf die abendländische Entwicklung beschränken.

Es gab eine Zeit, wo das mosaische Ritualgesetz das höchste Wort des Tages war. Man opferte, und man opferte aus lebendigem Herzensdrang, denn im Opfer brachte man sich selbst, brachte man den eigenen Willen dem göttlichen dar. Bis dann weiterhin diese Idee unter den Händen der aus dem Opfern ein einträgliches Gewerbe machenden Priesterschaft erstarb und der tote Brauch übrigblieb, gegen welchen ein neues Lebendiges in der Predigt der Propheten auftrat: „Ich will Mitleid und nicht Opfer.“

Aber auch das Prophetenwort erstarb, und beide, Gesetz und Propheten, wurden nun zum toten Buchstaben. Da trat unter die Toten ein gewaltiger Lebendiger: Derselbe, welcher dem Jüngling befahl, ihm nachzufolgen und die Toten ihre Toten begraben zu lassen, — derselbe, welcher auf die Frage, welche Strafe der Ehebrecherin gebühre, sich bückte und auf die Erde schrieb, — nichts anderes schrieb, wie wir glauben, als die Worte des Gesetzes, die das Weib zum Tode verdammten. Da standen sie in Staub geschrieben, die heiligen Worte des Gesetzes, ein toter Buchstabe. Er aber war gekommen, ein neues Leben zu bringen. Man schlug ihn ans Kreuz dafür, aber das Senfkorn seiner Lehre, voll höchster Lebenskraft, wurde zum Baum, unter dem die Völker wohnen sollten. Nicht mit Feuer und Schwert, sondern kraft seines inneren Lebens eroberte das Christentum die Welt: Aber kaum hatte es sie erobert, so fing das Leben in ihm zu sterben an. Die lebendigen Worte Jesu wurden zum starren, herrschwütigen Dogma, und wenn Jesus geklagt hatte „auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer“, so wiederholte sich jetzt in anderer Form dasselbe: Auf dem von Jesu gegründeten Stuhl saßen die Päpste des Mittelalters!

Vergebens suchten lebendigere Regungen in Gestalt des Neuplatonismns und der mittelalterlichen Mystik durch die erstarrte Rinde der Orthodoxie zum Durchbruch zu gelangen, bis endlich der Sturm der Reformation losbrach, die erstarrten Traditionen hinwegfegte und dem erstorbenen Christentum ein neues Leben einflößte. Aber nach kurzer Zeit verfiel auch dieses Leben dem allgemeinen Gesetz der religiösen Entwicklung: Die Reformatoren waren von den mittelalterlichen Traditionen auf die Bibel als deren Quelle zurückgegangen, und es war der gewiesene Weg, hierbei nicht stehenzubleiben, sondern von dem biblischen Buchstaben noch weiter auf den Urquell zurückzugehen, aus den alle Offenbarungen, auch die biblischen, geflossen sind, auf die göttlichen Kräfte, die in den abgründlichen Tiefen jedes menschlichen Gemütes schlummern. Diese lebendigen Kräfte waren, wie vordem in Jesus und Paulus, so auch wiederum in Luther erwacht und hatten ihn inspiriert. Aber der von ihm erst halb gegrabene Brunnen wurde von seinen Nachfolgern in endlosen Religionsstreitigkeiten wieder verschüttet, und hundert Jahre nach Luther erhob sich, kaum weniger herrschsüchtig und unduldsam als das Papsttum, die im Buchstabenglauben erstarrte lutherische Orthodoxie.

In diese Zeit fällt das Leben Jakob Böhmes, welcher als philosophischer und religiöser Genius in der Weltgeschichte nicht oft seines Gleichen hat und ganz der Mann gewesen wäre, die von Luther halb vollbrachte Reformation der Kirche zu vollenden und eine Versöhnung der Wissenschaft und des Glaubens herbeizuführen, wie sie uns bis auf den heutigen Tag noch fehlt. Aber die Ungunst äußerer und innerer Verhältnisse hemmte ihn allzusehr in seinen Bestrebungen: Und wie sich sein Leben im Kampf mit der fanatischen, buchstabengläubigen Orthodoxie verzehrte, so vermochte er in seinen Schriften, eingeengt durch den Buchstaben des Bibelwortes, nur unvollkommen den wahrhaft freien und dabei wahrhaft frommen Geist zum Ausdruck zu bringen, der ihn innerlich beseelte.

Beide, das Leben wie die Lehre des Mannes sind der Betrachtung wert: Beide bieten dasselbe eigenartige Schauspiel, wie das Lebendige mit dem Toten ringt, ohne es doch vollständig überwinden zu können.

Quelle zur deutschen Überarbeitung:
✍ Jakob Böhme: Über sein Leben und seine Philosophie, 1897


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