Von der Gnadenwahl

(Text von Jacob Böhme, am 8. Februar 1623 vollendet, deutsche Überarbeitung 2021)

13. Kapitel - Zusammenfassung

Summarischer Schluß all dieser Fragen

13.1. Schließlich führt der Verstand auch den Spruch Christi an, wenn er sagt: »Vater, ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir von der Welt gegeben hast. (Joh. 17.6)« Damit will er beweisen, daß Christus seinen Namen niemandem offenbare, den der Vater ihm nicht zuvor aus seinem Vorsatz gegeben habe, ob er wolle oder nicht.

13.2. Erklärung: Oh du gar jämmerlich verblendeter Verstand, wie bist du so blind! Weißt du nicht, was des Vaters Geben ist?! Es ist das Zentrum der Seele als des Vaters Willen in der Erfahrung der ewigen Gerechtigkeit, wo die Erfahrung entweder mit der Begierde des Greuels oder mit der Gnade göttlicher Liebe beladen wird, und dahin gibt (bzw. führt) sie das sprechende Wort in Gottes Gerechtigkeit, entweder in die Wurzel einer Distel oder in die Wurzel des Glaubens-Samens. Aus der Wurzel im Glaubens-Samen wird Christus offenbar, denn es ist Christis Wurzel, daraus ein Christ in Christus geboren wird. Denen oder diesen Christenmenschen hat Christus von der Welt her sich immerdar offenbart und ihnen Gottes Namen gegeben, denn er selbst ist Gottes Name.

13.3. Diesen Text sollte man nicht so verstehen, als wenn Gott vor dem Anfang der Welt einen Beschluß gemacht hätte und den Beschluß in eine gewisse Ordnung und Zwang gesetzt, wieviel (Menschen) er ihm (seinem Sohn Christus) geben wollte und welche. Und dieser Beschluß könnte niemals überschritten werden, wie es der gefangene Verstand so versteht. Nein, nein, der Baum Christi ist unermeßlich (ohne ein bestimmtes Maß bzw. Zahl), und auch Gottes Gnade und seine Gerechtigkeit im Feuer sind alle beide unermeßlich. Denn hätte Gott ein bestimmtes Ziel in Liebe und Zorn gesetzt, dann bestünde dieses in einer Meßbarkeit und einem Anfang, und deshalb müßte man auch denken, daß es ein Ende nehmen würde. Nein, nein, der Baum der Erkenntnis von Gutem und Bösem steht im ewigen Grund, in dem weder Zeit noch Ziel ist. Gottes Gnade in Christus ist unermeßlich und von Ewigkeit, also auch das Reich der Natur im Mysterium Magnum (dem großen Unbekannten bzw. Ungestalteten), aus dem sich die feurige Erfahrung aus dem Willen des Ungrundes offenbart hat. Wie Christus den Menschen als eine Wurzel des Glaubens-Samens im Anfang der Welt den Namen Gottes offenbart hat, so auch bis ans Ende der Welt, denn dies sagte er auch zu seinen Jüngern, als sie ihn über das Ende der Welt befragten: »Wie der Blitz aufgeht und bis zum Niedergang scheint, so sollte auch die Zukunft des Menschensohns sein. (Matth. 24.27)« Wie sich die Sonne den ganzen Tag allen Dingen hingibt und auf sie scheint und sich in alle Dinge hineindrängt, sei es gut oder böse, so ist auch die göttliche Sonne Christi als das wahre Licht der Welt.

13.4. Christus entzieht sich niemandem mit seinem Licht der Gnade. Er ruft sie alle und erscheint mit seiner Stimme in ihnen, gar keinen ausgenommen. Aber sie hören und sehen ihn nicht alle, denn sie sind nicht in Gott. Die Erfahrung des unergründlichen Willens des Vaters der seelischen Kreatur hat sich in fremde Bildlichkeit zu einer Distel der (eigenwilligen) Schlange hineingeführt. Diese sieht und hört nichts, wenn Gottes Gerechtigkeit in ihr spricht: „Tue recht, oder ich will dich töten, denn dies und das ist Sünde. Tue es nicht, oder du wirst von Gott verstoßen.“

13.5. Wenn dieses die Seele in sich hört, dann kommt der Teufel in seinem Schlangengebilde und spricht in die Erfahrung: „Harre noch im Fleisch in dieser und jener Lust, wie in Geiz, Stolz, Neid, Zorn, Hurerei, Völlerei und Spötterei! Es ist noch genug Zeit, um schließlich Buße zu tun. Sammle dir zuvor viele Reichtümer, damit du der Welt nicht mehr bedarfst, und dann tritt in ein frommes Leben ein. Dann kannst du einsam (unabhängig) leben, ohne den Spott der Welt, und bedarfst ihrer nicht.“

13.6. Auf diese Weise wird ein Tag und Jahr auf das andere gesetzt bis zur Stunde des Todes. Dann will man trotzdem ein Gnadenkind und selig sein, obwohl man doch die ganze Zeit in der Schlange gesteckt hat. Da soll dann der Priester mit Gottes Leichnam kommen und die neue Engelsgeburt mitbringen, obwohl sie mancher Priester selbst nicht hat und diesbezüglich auch nur zu Gast ist.

13.7. Weil sie in der Schlange stecken, sind diese nicht Christus gegeben, sondern dem Zorn Gottes. Der Zorn läßt sie nicht los, es sei denn, die Erfahrung der Seele wende sich innerlich zur Gnade. Und wenn das geschieht, dann ist es das Geben, denn die göttliche Sonne scheint alsbald in die stillstehende Erfahrung und zündet sie an. Und das Anzünden ist nun der Name Gottes, den Christus der Seele gibt, so daß sie beginnt, in Christus zu schöpfen und Buße der Vergebung zu wirken, nämlich wenn sie beginnt, von der Einbildung der Falschheit (bzw. Illusion) stillzustehen.

13.8. Wenn man spricht „Nicht mehr tun, ist die größte Buße.“ (ein altes Sprichwort), das geschieht, wenn der Grund der Seele beginnt, von der Einbildung still zu sein und in ihren Abgrund (der geistigen Tiefe) geht, zu dem sie die Macht hat, es sei denn, sie ist schon eine Distel und läuft und wächst so bis ans Ende ihrer Zeit. Jedoch gibt es kein Gericht von außen über sie, sondern nur ihr eigenes Gericht, weil sie bis zur Erntezeit im Leben dieser Welt ist. Aber schwer (und leidvoll) ist es, wenn der innere und auch der äußere Grund der äußerlichen Konstellation falsch (bzw. illusorisch) ist. So laufen sie dann gewöhnlich bis ans Ende. Und dann kommt nur noch Judas-Buße, und das Kitzeln mit dem Leiden Christi hilft ihnen wenig, wenn nicht das Wesen des Glaubens da ist.

13.9. Die (übliche) Pracht mit den herrlichen Begräbnissen eines toten Tieres ist nur des Teufels Spott, daß er sie damit verspottet, denn die zugerechnete Gnade gilt nicht von außen, so daß wir mit äußerlichen Gnadenworten losgesprochen werden, wie ein Herr oder Fürst einem Mörder das Leben aus Gnade schenkt. Nein, nein, es muß die zugerechnete Gnade Christi in uns im innerlichen Grund der Seele offenbar und unser Leben werden.

13.10. Man soll die Buße nicht bis zum Lebensende aufsparen, denn ein alter Baum wurzelt schlecht. Ist Christus nicht in der Seele (verwurzelt), dann gibt es keine Gnade oder Vergebung der Sünde. Denn Christus selbst ist die Vergebung der Sünde, der die angesammelte Greuel der Seele in Gottes Zorn mit seinem Blut in uns transmutiert und in das göttliche Feuer verwandelt. So sprach auch Christus vor den Pharisäern zu jenem gichtgeplagten Menschen: »Deine Sünden sind dir vergeben.« Das geschah, weil er Christis Stimme in seiner Seele fing, und da vergab ihm das lebendige Wort in ihm seine Sünde. Das heißt, er überwältigte die Sünde und trat der Schlange und ihrer hereingeführten Greuel mit dem Feuer der Liebe auf den Kopf ihres (Eigen-) Willens.

13.11. So kann nun niemand die Sünde vergeben als Christus im Menschen selbst. Und dazu sagte Christus: »Empfangt den Heiligen Geist! Welchen (Menschen) ihr die Sünden erlaßt, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie erhaltet, denen sind sie erhalten. (Joh. 20.23)« Das bezieht sich auf die wahren Apostel und ihre wahrhaften Nachfolger, die den Heiligen Geist aus Christus empfangen haben und selbst in Christus leben und sind und Christis Stimme in sich haben. Diese haben die Macht, das lebendige Wort Christi in die hungrige Seele hineinzusprechen, das in ihnen wohnt, und niemand anderes, wie immer sie auch heißen und erscheinen wollen. Auf diese Weise müssen sie Christis Apostel sein, wenn sie sein Amt verwalten wollen, ansonsten sind sie nur Pharisäer und Wölfe.

13.12. So muß die Seele ihren hungrigen Mund für das Einsprechen auftun, sonst geht das Wort in sie nicht ein. Wie es dann auch nicht in alle ging, als Christus selbst predigte und lehrte, sondern nur in die hungrigen und durstigen Seelen, von denen Christus sagte: »Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. (Matth. 5.6)« Das heißt, sie sollen von der Fülle seines Wortes gesättigt werden.

13.13. Denn nicht bei den Menschen steht das Sünde-Vergeben, sondern in der Gewalt des Wortes Christi, wenn es im Menschen wohnt. Nicht des Menschen Sprechen vergibt die Sünde, sondern Gottes Sprechen im Menschenwort. Aber das geht nun nicht in die falsche Distel, sondern in die Seele, wo der Glaubens-Same im Schall der Bewegung liegt (und auf Erweckung wartet) und wo die Seele von der Einbildung der Schlangenbegierde stillsteht.

13.14. Darum verlaßt euch nicht auf Menschen! Sie können euch die Sünde nicht vergeben und die Gnade nicht geben, wenn ihr nicht selbst nach der (wahren) Gerechtigkeit hungert und dürstet. Die Buße bis ans Ende zu sparen, das ist eine Judas-Buße. Es gilt nicht nur, sich zu trösten, sondern das Neugeborenwerden.

13.15. Ihr lieben Brüder, so habe ich kurz auf die angeregten Punkte aus dem Grunde antworten wollen, und dies ist meine Meinung, daß die Sprüche der Schrift alle wahr sind, aber der eigenwillige Verstand irrt und diese ohne Christus nicht versteht. Der Apostel sagt: »Wir haben keinen knechtischen Geist empfangen, so daß wir uns abermals fürchten müssen, sondern einen kindlichen Geist, der da ruft: „Abba, lieber Vater!“ (Röm. 8.15)« Das heißt, nicht der Welt oder des Fleisches Sinn haben wir in der verheißenen Gnade empfangen, sondern den kindlichen Sinn Christi (als Sohn Gottes), der uns vom Gesetz der Sünde freigemacht hat. Darum soll ein jeder wie Jesus Christus gesinnt sein, der Einige Mensch in Gnade, wie auch der Apostel sagt (in Phil. 2.5). Und wer diesen Sinn nicht hat, der erkennt nicht, was der Geist Gottes ist. Es ist ihm eine Torheit, und er begreift es nicht (1.Kor. 2.14).

13.16. Auch wenn wir nun mit diesen sehr scharfsinnigen Ausführung manchem unverständlich sein werden und auch ein Anstoß oder Ärgernis, so daß man sagen wird, wir gebrauchten fremde und ungewöhnliche Reden in unserem Grund, darauf sagen wir mit Wahrheit vor Gottes Augen, daß wir es nicht anders geben können als es uns in Christi Sinn gegeben wurde. Und wer aus Christus ist, der wird es wohl verstehen. Den anderen Spöttern und Klüglingen, die nur ihren (gedanklich-oberflächlichen) Verstand zum Meister haben, denen haben wir nichts geschrieben.

13.17. Wir bitten aber unsere lieben Brüder in Christus, dieses Traktat mit Geduld durchzusehen und zu lesen, denn sein Name heißt „Je länger, je lieber“, je mehr gesucht, desto mehr gefunden. Weil Christus uns selber drängt, zu suchen, anzuklopfen und zu bitten und uns die Verheißung gegeben hat, daß wir empfangen und finden sollen, so sollen wir nicht in Sünde stillstehen wollen und darauf warten, bis uns die Gnade Gottes überfalle und zwinge. Wir sollten auch niemals denken, daß Gottes Geist aus Bösem ein Gutes machen wollte, auch wenn er freilich den armen Sünder, der noch nicht ganz eine Distel ist, manchmal in seinen Sünden überfällt und ihn davon abzieht. Wenn er sich nun ziehen läßt, dann ist es gut. Will er aber gar nicht, sondern tritt wieder in die Schlange und kreuzigt Christus, dann lästert er dem Heiligen Geist, und von ihm sagt die Schrift, er finde ewiglich keine Vergebung (Hebr. 6.6).

13.18. Kein Mensch sollte sagen, er sei nicht schon etliche Male gezogen worden, besonders in seinen Gedanken, sogar der Gottloseste. Christus erscheint allen Völkern, einem wie dem anderen, dem einen in seinem geoffenbarten Namen, dem anderen Volk aber in einem (anderen) Namen des Einigen Gottes. Er zieht sie alle, und wegen seines Zuges und seiner Weisheit, die in ihre Herzen geschrieben sind, so daß sie wissen, daß es einen Gott gibt, den sie ehren sollen, aber es nicht tun, werden sie dann entsprechend gerichtet.

13.19. Wieviel mehr aber werden wir gerichtet werden, wenn wir uns „Christen“ nennen und das wahre Wissen haben, aber die Wahrheit aufhalten und sie in Lügen verwandeln, um einer gefaßten Meinung willen, die wir uns einmal eingebildet und damit in der Welt bekannt gemacht haben. Und auch wenn wir danach ans Licht geführt werden, dann gönnen wir uns der eigenen Ehren mehr als Gott und wollen das Licht mit fremder Deutelei verbergen, beschmutzen und verdecken, auf daß der Menschenwahn wie ein Abgott an Christi Stelle sitze. So geschieht es viele Male und darin soll Babel (der Turmbau zu Babel mit wackligen Gedankenkonstrukten bis zum Himmel) ganz aufgerichtet werden, so daß mancher nicht nachläßt, seine einmal bekannte Meinung zu verteidigen, auch wenn er die ganze Schrift bei den Haaren herbeiziehen müßte.

13.20. Liebe Herrn und Brüder, laßt uns Christo die Ehre geben und uns untereinander freundlich mit züchtigen Worten und Unterweisung begegnen. So bringe einer dem anderen seine Gaben im brüderlichen Willen dar, denn es gibt mancherlei Erkenntnis und Auslegungen. Doch wenn sie nur aus dem Geist Christi kommen, dann stehen sie alle in einem Grund.

13.21. Wir sollten uns wegen der ungleichen Gaben nicht verfolgen, sondern vielmehr in Liebe untereinander erfreuen, daß Gottes Weisheit so unerschöpflich ist, und an das Künftige denken, wie uns so wohl geschehen soll, wenn all diese Weisheit aus Einer und in Einer Seele offenbar werden wird, so daß wir alle Gottes Gaben erkennen und unsere Freude aneinander haben werden, und sich jeder des anderen Gabe erfreut, wie sich die schönen Blumen in ihren unterschiedlichen Farben und Tugenden auf Erden nebeneinander in einer Mutter erfreuen. So ist auch unsere Auferstehung und Wiederkunft.

13.22. Was wollen wir denn hier um eine Weisheit streiten, die ein Gabe ist? Denn alle Schätze der Weisheit liegen in Christus. Wenn wir Ihn haben, so haben wir alles. Und wenn wir Ihn verlieren, dann haben wir alles verloren, auch uns selbst.

13.23. Der Einige Grund unserer Religion ist, daß wir Christus in uns lieben und uns untereinander lieben, wie uns Christus geliebt hat, so daß er sein Leben für uns in den Tod gegeben hatte. Doch diese Liebe wird in uns erst offenbar, wenn Christus in uns als Mensch geboren und offenbar wird. Dann gibt er uns seine Liebe, so daß wir uns in ihm lieben, wie er uns liebt. Denn er gibt unserer Seele sein Fleisch und Blut immerdar zu essen und zu trinken, und welche Seele dieses nicht ißt und trinkt, die hat kein göttliches Leben in sich (Joh. 6.54).

13.24. Darum bitte ich den liebhabenden Leser, wenn ihm in diesem Traktat etwas zu scharfsinnig ist, dann möge er Gott die Ehre geben, beten und dies recht lesen. Es liegt alles, was die Sonne bescheint und der Himmel begreift, wie auch die Hölle und alle Tiefen im Menschen. Er ist ein unerschöpflicher Quellbrunn. Und so kann er auch diesen hohen Grund, den Gott uns als einfältige Menschen gegeben hat, mit der Weile gänzlich und gar wohl begreifen und erkennen.

13.25. Allein vor dem Schmähen wollen wir ihn gewarnt haben, wenn ihm Seele und Ewigkeit lieb sind, denn er wird uns nicht anrühren, sondern den grimmigen Zorn Gottes in sich selber erwecken. Mich aber, der zu diesem Werk berufen war, kann er gern anrühren, denn ich stehe jenseits seiner Rührigkeit in Christi Banden. Ich will ihn aber in Liebe gebeten haben, sich als einen Bruder in Christus zu zeigen, und wenn er es mit göttlichen Gaben vermag, eine noch hellere (und klarere) Erklärung zu geben. Wenn ich sie dann sehen (und lesen) werde, dann will ich mich an seiner Gabe erfreuen und dem Höchsten danken, der uns untereinander so vielfältige Gaben reichlich gibt. Amen.

Vollendet am 8. Februar 1623 (deutsche Überarbeitung 2021).

Verwendete Quellen zur deutschen Überarbeitung

Von der Genaden-Wahl oder dem Willen Gottes über die Menschen, Jacob Böhme, 1682
De electione gratiae von der Gnaden-Wahl, Jacob Böhme, 1730
Jakob Böhmes sämmliche Werke, Band 4, Johann Umbrosius Barth, 1842


Inhaltsverzeichnis Weiter