Aurora oder Morgenröte im Aufgang

(Text von Jacob Böhme von 1612, deutsche Überarbeitung 2021)

6. Kapitel - Das Gleichnis von Engel und Mensch

Wie ein Engel und Mensch Gottes Gleichnis und Bild sei.

6.1. Siehe, wie das Wesen in Gott ist, so ist das Wesen auch im Menschen und den Engeln. Und wie der göttliche Leib ist, so ist auch der englische und menschliche. Der Unterschied liegt allein darin, daß der Engel oder Mensch eine Kreatur ist und nicht das Ganze, sondern ein Sohn des ganzen Wesens, den das ganze Wesen geboren hat. Darum ist er natürlich dem ganzen Wesen untertan, weil er der Sohn seines Leibes ist. Und wenn sich der Sohn gegen den Vater stellt, dann ist es ja recht, daß ihn der Vater aus seinem Haus verstößt, denn er stellt sich gegen den, der ihn geboren hat und durch dessen Kraft er eine Kreatur geworden ist. Denn wenn einer etwas aus dem macht, das sein eigen ist, dann hat er ja (das Recht), wenn ihm dieses nicht nach seinem Willen gerät, damit zu machen, was er will, ein Gefäß zu Ehren oder zu Unehren, welches dem Luzifer auch geschah.

6.2. Nun erkenne: Die ganze göttliche Kraft des Vaters spricht aus allen Qualitäten das Wort aus, und das ist der Sohn Gottes. Nun geht dieser Schall oder dieses Wort, das der Vater ausspricht, aus dem Salpeter oder den Kräften des Vaters und dem Mercurius, Schall oder Ton des Vaters hervor. Dann spricht es der Vater in sich selbst aus, und dieses Wort ist ja der Glanz aus allen seinen Kräften. Und wenn es ausgesprochen ist, dann steckt es nicht mehr in den Kräften des Vaters (als Potential), sondern es schallt und tönt im ganzen Vater wiederum in alle Kräfte.

6.3. Nun hat dieses Wort, das der Vater ausspricht, eine solche Schärfe, daß der Ton des Wortes augenblicklich und geschwind durch die ganze Tiefe des Vaters geht, und diese Schärfe ist der Heilige Geist. Denn das Wort, das ausgesprochen ist, das bleibt wie ein Glanz oder herrliches Mandat (ein Auftrag) vor dem König. Der Schall aber, der durch das Wort ausgeht, der verrichtet des Vaters Mandat, das er durch das Wort ausgesprochen hat, und das ist die Geburt der Heiligen Dreifaltigkeit.

6.4. Nun siehe, so ist auch ein Engel oder Mensch: Die Kraft im ganzen Leib hat alle Qualitäten, wie sie in Gott dem Vater sind.

6.5. Und wie in Gott dem Vater alle Kräfte von Ewigkeit zu Ewigkeit aufsteigen, so steigen auch alle Kräfte im Engel und Menschen in den Kopf auf, denn höher können sie nicht steigen, denn es ist nur eine Kreatur, die Anfang und Ende hat. Und im Kopf ist der göttliche Rat und Thron, und der bedeutet Gott, den Vater, und die fünf Sinne oder Qualitäten sind die Ratgeber, die ihre Einflüsse aus dem ganzen Leib aus allen Kräften haben.

6.6. So halten nun die fünf Sinne in der Kraft des ganzen Leibes immer Rat, und wenn der Rat beschlossen ist, dann spricht es der zusammengefügte Richter in sein Zentrum oder in die Mitte des Leibes als ein Wort in das Herz aus. Denn das ist der Quellbrunn aller Kräfte, von dem es auch sein Aufsteigen nimmt.

6.7. Da steht es nun im Herzen wie eine, aus allen Kräften zusammengefaßte, selbständige Person, und ist ein Wort, und das bedeutet Gott, den Sohn. Dann geht es aus dem Herzen in den Mund auf die Zunge, welche die (trennende) Schärfe ist und es schärft, so daß es schallt und es nach den fünf Sinnen unterscheidet.

6.8. Denn aus welcher Qualität das Wort seinen Ursprung nimmt, in dieser Qualität wird es auf der Zunge von sich gestoßen, und so geht die Kraft des Unterschieds von der Zunge aus, und das bedeutet den Heiligen Geist.

6.9. Denn gleichwie der Heilige Geist vom Vater und Sohn ausgeht, alles entscheidet und schärft und das ausrichtet, was der Vater durch das Wort ausspricht, so schärft und unterscheidet auch die Zunge dasjenige, was die fünf Sinne im Haupt durch das Herz auf die Zunge bringen. Und der Geist geht von der Zunge durch den Mercurius oder Schall an den Ort, wie es im Rat der fünf Sinne beschlossen wurde, und richtet dasjenige aus.

Vom Mund

6.10. Dein Mund bedeutet, daß du kein allmächtiger Sohn deines Vaters bist, seist du nun ein Engel oder Mensch. Denn durch den Mund mußt du deines Vaters Kraft in dich raffen, wenn du leben willst. Ein Engel muß das ebenso tun wie ein Mensch. Auch wenn er nicht das Element Luft auf eine solche Weise benötigt, wie ein Mensch, so muß er doch den Geist durch den Mund in sich raffen, davon die Luft in dieser Welt entsteht.

6.11. Denn im Himmel gibt es keine solche Luft, sondern die Qualitäten sind ganz sanft und freudenreich gleich einem lieblichen Sausen, und der Heilige Geist ist unter allen Qualitäten im Salpeter und Mercurius. Und diese muß auch ein Engel für sich gebrauchen, sonst kann er keine bewegliche Kreatur sein, denn auch er muß durch den Mund von den himmlischen Früchten essen.

6.12. Das solltest du aber nicht irdisch verstehen, denn ein Engel hat keine Gedärme, dazu weder Fleisch noch Gebein (bzw. Knochen), sondern er ist aus göttlicher Kraft zusammengefügt, zwar in Form und Art gleich einem Menschen, auch mit allen Gliedern wie ein Mensch, aber er hat keine Geschlechtsorgane und auch keinen Ausgang nach unten (After), denn diese benötigt er auch nicht.

6.13. Der Mensch hat seine Geschlechtsorgane und dazu auch seinen Ausgang erst im kläglichen (Sünden-) Fall bekommen. Denn ein Engel treibt nichts von sich, als die göttliche Kraft, die er mit dem Mund erfaßt und durch die er sein Herz anzündet, und das Herz zündet alle Glieder an. Und diese treibt er durch den Mund wieder von sich, wenn er spricht und Gott lobt.

6.14. Die himmlischen Früchte aber, die er ißt, die sind nicht irdisch. Und wenn sie auch in Form und Gestalt wie die irdischen erscheinen, so sind sie doch nur göttliche Kraft und haben damit einen lieblichen Geschmack und Geruch, so daß ich das mit nichts in dieser Welt vergleichen kann. Denn sie schmecken und riechen nach der Heiligen Dreifaltigkeit.

6.15. Du solltest nicht denken, als wäre das nur wie ein Abbild, ähnliche einem Schatten. Nein, der (sehende) Geist zeigt hell und klar, daß in der himmlischen Pracht, im himmlischen Salpeter und Mercurius göttliche Bäume, Stauden und Blumen wachsen und vielerlei, was in dieser Welt ein Abbild ist. Denn wie die Engel sind, so sind auch die Gewächse und die Früchte, alles aus göttlicher Kraft.

6.16. Doch du solltest diese Gewächse des Himmels nicht ganz mit dieser Welt vergleichen, denn in dieser Welt gibt es zwei Qualitäten, eine böse und eine gute, und viel wächst durch die Kraft der bösen Qualität. Aber dieses wächst im Himmel nicht, denn der Himmel hat nur eine Gestaltung, und es wächst nichts, was nicht gut ist. Allein Herr Luzifer hat diese Welt so zugerichtet. Darum schämte sich Mutter Eva, als sie von dem gegessen hatte, was durch die böse Qualität zugerichtet worden war. Und in gleicher Weise schämte sie sich ihrer Geschlechtsorgane, die sie sich durch diesen Apfelbiß zugerichtet hatte.

6.17. Aber eine solche Substanz gibt es nicht in der englischen und himmlischen Frucht. Es gibt wohl gewiß und wahrhaftig allerlei Früchte im Himmel, und nicht nur Abbilder, und die Engel nehmen sie mit ihren Händen und essen diese, wie wir Menschen, aber sie benötigen keine Zähne dazu, und sie haben auch keine, denn die Frucht ist von göttlicher Kraft.

6.18. Denn alles, was ein Engel von außerhalb zur Erhaltung seines Lebens benötigt, das ist nicht sein körperliches Eigentum, das er durch Naturrecht hat, sondern der himmlische Vater gibt es ihnen alles aus Liebe. Nur ihr Körper ist ihr Eigentum, den Gott ihnen zum Eigentum gegeben hat. Und was einem nun für eigen oder zum Eigentum gegeben wurde, das ist aus Naturrecht sein, und wer es ihm ohne Grund wieder nimmt, der handelt nicht recht daran. So tut es auch Gott nicht, und darum ist ein Engel eine ewige und unvergängliche Kreatur, die in alle Ewigkeit besteht.

6.19. Doch was wäre ihm dann dieser Körper nütze? Wenn ihn Gott nicht speisen würde, dann hätte er keine Beweglichkeit und läge wie ein totes Holz da. Darum sind die Engel Gott gehorsam und demütigen sich vor dem gewaltigen Gott, loben, ehren, rühmen und preisen Ihn in seinen großen Wundertaten und singen stets von Gottes Heiligkeit, so daß er sie speist.

Von der holdseligen und freudenreichen Liebe der Engel für Gott aus wahrem Grund

6.20. Die wahre Liebe in der göttlichen Natur rührt aus dem Brunnquell des göttlichen Sohnes her. Siehe du Menschenkind, laß es dir gesagt sein: Die Engel wissen von Anfang an wohl, was die wahre Liebe für Gott sei, aber du benötigst sie in deinem kalten Herzen.

6.21. So erkenne: Wenn der holdselige und freudenreiche Glanz des Lichtes mit der süßen Kraft aus dem Sohn Gottes im ganzen Vater in alle Kräfte leuchtet, dann werden alle Kräfte vom holdseligen Licht und der süßen Kraft entzündet, triumphierend und freudenreich.

6.22. So auch, wenn das holdselige und freudenreiche Licht des göttlichen Sohnes die lieben Engelchen anleuchtet und ihnen in ihr Herz hineinschimmert, dann zünden sich alle Kräfte in ihrem Leib an, und ein so freudenreiches Liebesfeuer geht auf, daß sie vor großer Freude loben, singen und klingen, was weder ich noch eine andere Kreatur aussprechen kann.

6.23. Mit diesem (Lob-) Gesang will ich den Leser auf jenes Leben verwiesen haben, mit dem er es selber erfahren wird, denn ich kann es nicht beschreiben.

6.24. Willst du es aber in diesem Leben erfahren, dann laß ab von deiner Heuchelei, deinen Finanzen und Betrug, auch von deiner Spötterei, und wende dein Herz mit ganzem Ernst zu Gott und tue Buße für deine Sünde mit wahrhaft ernstem Vorsatz, um heilig zu leben, und bitte Gott um seinen Heiligen Geist und ringe mit ihm, wie der Heilige Erzvater Jakob die ganze Nacht mit ihm gerungen hatte, bis die Morgenröte anbrach, und auch nicht eher nachließ, bis der Heilige Geist ihn gesegnet hatte (1.Mose 32.26). Also handle auch du, und der Heilige Geist wird wohl eine Gestalt in dir bekommen.

6.25. Wirst du so in deinem Ernst nicht nachlassen, dann wird dieses (heilige) Feuer plötzlich über dich kommen und dich anblicken. Dann wirst du wirklich erfahren, was ich hier geschrieben habe, und wirst meinem Buch Glauben schenken. Du wirst auch ein gar anderer Mensch werden, und wirst daran denken, solange du lebst, denn deine Lust wird mehr im Himmel sein als auf Erden. Denn die heilige Seele wandelt im Himmel, und wenn sie auch auf Erden im Leib wandelt, so ist sie doch allezeit bei ihrem Erlöser Jesus Christus und ißt mit ihm zu Gast. Das merke dir!


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